Schönheit in vielfältiger Form

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In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Nature Physics beschreiben die ETH-Physiker Oded Zilberberg und Sebastian Huber unerwartete Zusammenhänge zwischen der Physik und der Topologie, einem Teilgebiet der Mathematik. In zwei Artikeln bieten sie faszinierende Einblicke in zwei Aspekte der „topologischen Materie“ — einem Feld, dem momentan grosses Interesse zuteil wird und zu welchem Physiker an der ETH Zürich im Laufe der Jahre wesentlich beigetragen haben.

von Andreas Heinz Trabesinger
Pendel
Der Versuchsaufbau der Gruppe von Sebastian Huber. Er besteht aus 270 Pendeln, die mit Federn miteinander verbunden sind. Mit diesem Aufbau können sogenannte topologische Isolatoren in einem mechanischen System verwirklicht werden. (Foto: ETH Zürich/D-PHYS Heidi Hostettler)

Mathematik und Physik sind eng miteinander verbunden. In der Geschichte der Wissenschaft hat sich diese Verbindung als überaus fruchtbar erwiesen, und hat zahlreiche Überraschungen geliefert. Wie kann es sein, dass die abstrakten Gleichungen und Beziehungen der Mathematik sich regelmässig als so effizient erweisen, wenn es darum geht, Effekte zu beschreiben und vorherzusagen, die wir im Labor oder im täglichen Leben beobachten? Der Physiker Eugene Wigner (1902–1995) nannte dieses Phänomen die "vernunftswidrige Effizienz der Mathematik in den Naturwissenschaften" (the unreasonable effectiveness of mathematics in the natural sciences; [1]). Ein Paradebeispiel für diese Effizienz ist das Teilgebiet der Topologie. Die Topologie ist ein Zweig der Geometrie, der sich — grob gesagt — damit beschäftigt, wie die Form eines Objekts durch Biegen und Dehnen verändert werden kann. Methoden und Erkenntnisse aus diesem abstrakten Gebiet der Mathematik wurden seit dessen Anfängen dafür eingesetzt, "praktische" Probleme anzugehen. Bereits eine der frühesten Arbeiten auf dem Gebiet war einem konkreten Problem gewidmet, als nämlich der Basler Universalgelehrte Leonhard Euler (1707–1783) das berühmte Königsberger Brückenproblem löste. Er beantwortete die Frage, ob man die Stadt Königsberg mit ihren zwei grossen Inseln und historisch sieben Brücken so durchqueren kann, dass man genau einmal über jede der Brücken geht. Man kann es nicht. Um zu diesem Schluss zu kommen, verwendete Euler Methoden, die später ein Teil der Grundlagen für das Feld der Topologie wurden.

Nach neuen Mustern gestrickt

Die Artikel von Huber [2] und Zilberberg (zusammen mit Yaacov Kraus vom Holon Institute of Technology, Israel; [3]) beschäftigen sich damit, wie Topologie heutzutage dazu verwendet wird, ungewöhnliche physikalische Eigenschaften von Materialien zu erklären — und damit, wie Konzepte aus dem Gebiet der Topologie dazu genutzt werden können, neue Eigenschaften von Materialien vorherzusagen, um diese Eigenschaften dann in praktischen Anwendungen einzusetzen. In der Physik sind Effekte, die in der Geometrie verwurzelt sind, seit jeher bekannt. Diese Effekte haben in vielen Fällen damit zu tun, wie eine grosse Anzahl von Teilchen (statt Strassen und Brücken) angeordnet werden können. Nehmen wir Wassermoleküle als Beispiel. Im Alltag begegnen wir Ansammlungen von Wassermolekülen in drei Formen: als gasförmigen Dampf, in dem sich die Moleküle weitgehend unabhängig voneinander bewegen; als flüssiges Wasser, in dem die Moleküle miteinander wechselwirken und gemeinsame Bewegungen ausführen; oder als festes Eis, wo die Moleküle in fixe Positionen festgefroren sind. Die Ordnungsprinzipien, die diesen drei unterschiedlichen Formen von Wasser zugrunde liegen, sind gut verstanden, ebenso wie die Übergänge von einer Form in eine andere. Die selben Grundregeln gelten in zahlreichen Materialien, die ihre Eigenschaften ändern können, typischerweise indem die Temperatur verändert wird.

Es gibt aber Muster und Übergänge, die nicht innerhalb dieses klassischen Rahmens der Physik erklärt werden können. Und hier kommt Topologie ins Spiel. Ein wichtiges Beispiel aus jüngster Zeit, wo komplexe "topologischen Eigenschaften" dem Verhalten einer Klasse von Materialien zugrundeliegen, sind die sogenannten topologischen Isolatoren. Diese Materialien haben Eigenschaften, welche der Intuition widersprechen. Im Inneren sind sie nämlich elektrische Isolatoren (sprich, dort kann kein elektrischer Strom fliessen), aber die Oberfläche dieser Materialien kann Strom leiten. Die Vorhersage der Existenz solcher topologischen Isolatoren und die spätere experimentelle Verifikationen haben dem Gebiet der "topologischen Materie" einen enormen Schub verschafft, mit der Aussicht auf interessante technologische Anwendungen in der Elektronik.

Von der Quantenphysik zur Akustik

Topologische Effekte werden traditionell im Rahmen der Quantenphysik erforscht. Sie können aber auch in mechanischen Systemen beobachtet und genutzt werden, wie Huber in seinem Artikel beschreibt [2]. Die Unterschiede zwischen den Systemen, die in der klassischen Mechanik und in der Quantenmechanik untersucht werden, sind enorm — schwingende Pendel und rotierende Gyroskope hier, Atome und Elektronen dort. Aber die Mathematik, mit welcher die beiden Welten beschrieben werden können, ist mitunter durchaus ähnlich. Dass solche Ähnlichkeiten existieren ist wohlbekannt. Dass aber die Ähnlichkeiten so tief gehen, dass Erkenntnisse, die auf dem Gebiet der topologischen Quantensysteme gewonnen wurden, auf mechanische Systeme übertragen werden können, dies galt als Überraschung.

Über die Erkundung der mathematischen Ähnlichkeiten hinaus wurden in den vergangenen Jahren mechanische Systeme gebaut, in denen sich interessante topologische Muster direkt beobachten lassen, und die Gruppe von Huber hat wichtige Beiträge zu diesem Gebiet der „topologischen Mechanik“ geleistet. Im vergangenen Jahr haben Huber und sein Doktorand Roman Süsstrunk ein mechanisches Analogon zu topologischen Isolatoren vorgestellt [4]. Sie zeigten theoretisch und experimentell, dass sich in einer Anordnung von aneinandergekoppelten Pendeln (siehe Abbildung oben) ebenfalls das Phänomen ausbilden kann, dass sich an der Oberfläche „etwas bewegt“, während Bewegungen im Inneren des Materials gehemmt sind. Zusammen mit Arbeiten aus anderen Forschungsgruppen, die verwandte mechanische Aufbauten entwickelt haben [2], ist ein neues Forschungsgebiet entstanden, welches nun systematisch erforscht wird [5]. Und wie im Fall der topologischen Isolatoren für Elektronen besteht auch für mechanische topologische Systeme die Aussicht auf praktische Anwendungen. Insbesondere erwartet Huber, dass die topologischen Eigenschaften solcher Materialien zu neuen Ansätzen in der Akustik führen könnten, zum Beispiel für die Schallisolation.

Auf zu höheren Dimensionen

In ihrem separaten Artikel [3] berichten Zilberberg und Kraus über eine Verbindung zwischen der Topologie und physikalischen Systemen, die in sich selbst Staunen auslösen: Quasikristalle. Die Bausteine ​​von „normalen“ Kristallen sind einem periodischen Muster angeordnet — sie wiederholen sich nach einem strengen Muster. In Quasikristallen dahingegen sind die Bausteine ​​in einer weniger regelmässigen Art und Weise angeordnet (siehe Abbildung unten). Quasikristalle wurden im Jahr 1981 von Dan Shechtman entdeckt. Seine Entdeckung gab zu einer Debatte Anlass, die sich über viele Jahre hinziehen sollte: sind Quasikristalle, die so verschieden sind von allen anderen bis dann bekannten Kristallen, „echt“. Quasikristalle haben sich in der Tat als ein echtes Phänomen herausgestellt, und ihre Existenz führte zu einer neuen Definition dessen, was ein Kristall ist. Shechtman wurde für seine Entdeckung 2011 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Penrose-Parkettierung
Sowohl Kristalle wie auch Quasikristalle bestehen aus einigen wenigen Bausteinen, die immer wieder im Gesamtmuster erscheinen. In einem Quasikristall geschieht dies aber in einer unregelmässigen Folge. Gezeigt ist ein Beispiel der sogenannten Penrose-Parkettierung. (Bild: Oded Zilberberg/ETH Zürich)

Im selben Jahr wie Shechtmans Nobelpreis haben Kraus und Zilberberg (zur der Zeit beide am Weizmann-Institut für Wissenschaften, Israel) zusammen mit Mitarbeitern überraschende Verbindungen zwischen Quasikristallen und topologischen Isolatoren gefunden (die Erkenntnisse wurden im Jahr 2012 veröffentlicht; [6]). Theoretisch und in Experimenten zeigte das Team, dass Materialien mit quasikristalliner Ordnung sich analog zu einem topologischen Isolator verhalten können. Sie zeigten aber auch, dass die mathematische Beschreibung dieses Phänomens den Weg zu „höheren Dimensionen“ weist. Konkreter, das Verhalten eines eindimensionalen Quasikristalls, zum Beispiel, wird in geeigneter Weise durch die Mathematik eines zweidimensionalen Raums beschrieben. Zilberberg und Kraus erklären [3], dass diese Verbindung zwischen Dimensionen interessante Möglichkeiten eröffnet, experimentell mathematische Modelle zu erforschen, die sonst nicht leicht zugänglich sind, wie etwa vierdimensionale topologischen Isolatoren [7]. Andererseits sollte ein tieferes Verständnis der topologischen Eigenschaften von Quasikristallen helfen, praktische Anwendungen zu entwickeln, die auf diesen Materialien beruhen.

Ein vielfältiges Gebiet, mit einer reichen Geschichte an der ETH Zürich

Die Beiträge von Huber [2] und Zilberberg und Kraus [3] in Nature Physics  sind Teil einer breiteren Sammlung von Artikeln über „topologische Materie“, geschrieben von international führenden Experten. Diese Artikel weisen vor allem auf neue Richtungen in diesem Feld hin. ETH-Forscher leisten derzeit wesentliche Beiträge in mehreren Bereichen — topologische Effekte in mechanischen Systemen und Quasikristallen sind nur zwei von diesen. In den letzten Jahrzehnten sind in verschiedenen Gruppen aus mehreren Instituten des Departements Physik der ETH zahlreiche wichtige Arbeiten entstanden, in welchen die Verbindungen zwischen Topologie und Physik eine zentrale Rolle spielen. Diese Beiträge reichen, um einige wenige Beispiele zu nennen, von grundlegenden Arbeiten in der mathematischen Physik [8–11], über theoretische Beiträge zu neuen Klassen von Materialien [12] und im Gebiet der Quantentechnologien [13, 14], bis zu experimentellen Beobachtungen von faszinierenden topologischen Effekten in natürlichen [15, 16] wie auch künstlichen Strukturen [17].

Eugene Wigner gab seinen Vortrag zur „vernunftswidrigen Effizienz der Mathematik in den Naturwissenschaften“ im Jahr 1959. Er schloss mit einem positiven Ausblick: „Das Wunder der Angemessenheit der Sprache der Mathematik für die Formulierung der Gesetze der Physik ist ein wunderbares Geschenk, das wir weder verstehen noch verdienen. Wir sollten dafür dankbar sein und hoffen, dass es in der zukünftigen Forschung gültig bleiben wird, und dass es sich, zum Guten oder zum Schlechten, auf breite Zweige der Wissenschaft ausdehnt, zu unserer Freude, wenn vielleicht auch zu unserer Verblüffung.“ Es lässt sich wohl ohne Zögern sagen, dass der Zweig der Topologie für diese Art von Freude und Verblüffung gesorgt hat — und dies weiterhin tut.

Autor: externe SeiteAndreas Trabesinger

[1] E. P. Wigner, The unreasonable effectiveness of mathematics in the natural sciences. Comm. Pure Appl. Math. 13, 1 (1960). doi: externe Seite10.1002/cpa.3160130102

[2] S. D. Huber, Topological mechanics. Nature Phys. 12, 621 (2016). doi: externe Seite10.1038/nphys3801

[3] Y. E. Kraus & O. Zilberberg, Quasiperiodicity and topology transcend dimensions. Nature Phys. 12, 624 (2016). doi: externe Seite10.1038/nphys3784

[4] R. Süsstrunk & S.D. Huber, Observation of phononic helical edge states in a mechanical topological insulator. Science 349, 47 (2015). doi: externe Seite10.1126/science.aab0239

[5] R. Süsstrunk & S.D. Huber, Classification of topological phonons in linear mechanical metamaterials. Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. in the press (2016). doi: externe Seite10.1073/pnas.1605462113

[6] Y. E. Kraus, Y. Lahini, Z. Ringel, M. Verbin & O. Zilberberg, Topological States and adiabatic pumping in quasicrystals. Phys. Rev. Lett. 109, 106402 (2012). doi: externe Seite10.1103/PhysRevLett.109.106402

[7] Y. E. Kraus, Z. Ringel, & O. Zilberberg, Four-dimensional quantum Hall effect in a two-dimensional quasicrystal, Phys. Rev. Lett. 111, 226401 (2013). doi: externe Seite10.1103/PhysRevLett.111.226401

[8] J. Fröhlich & U. M. Studer, Gauge invariance and current algebra in non-relativistic many-body theory, Rev. Mod. Phys. 65, 733 (1993). doi: externe Seite10.1103/RevModPhys.65.733

[9] J. Fröhlich & P. Werner, Gauge theory of topological phases of matter. EPL 101, 47007 (2013). doi: externe Seite10.1209/0295-5075/101/47007

[10] O. Akerlund & P. de Forcrand, U(1) lattice gauge theory with a topological action. JHEP 6, 183 (2015). doi: externe Seite10.1007/JHEP06(2015)183

[11] G. M. Graf & M. Porta, Bulk-Edge Correspondence for Two-Dimensional Topological Insulators. Commun. Math. Phys. 324, 851 (2013). doi: externe Seite10.1007/s00220-013-1819-6

[12] A. A. Soluyanov, D. Gresch, Z. Wang, QS Wu, M. Troyer, X. Dai & B. A. Bernevig, Type-II Weyl semimetals. Nature 527, 495 (2015). doi: externe Seite10.1038/nature15768

[13] L. B. Ioffe, M. V.  Feigel'man, A. Ioselevich, D. Ivanov, M. Troyer & G. Blatter, Topologically protected quantum bits using Josephson junction arrays. Nature 415, 503 (2002). doi: externe Seite10.1038/415503a

[14] L. Wang, M. Troyer & X. Dai, Topological Charge Pumping in a One-Dimensional Optical Lattice. Phys. Rev. Lett. 111, 026802 (2013). doi: externe Seite10.1103/PhysRevLett.111.026802

[15] S. Baer, C. Roessler, T. Ihn, K. Ensslin, C. Reichl & W. Wegscheider, Experimental probe of topological orders and edge excitations in the second Landau level. Phys. Rev. B 90, 075403 (2014). doi: externe Seite10.1103/PhysRevB.90.075403

[16] B. Q. Lv, N. Xu, H. M. Weng, J. Z. Ma, P. Richard, X. C. Huang, L. X. Zhao, G. F. Chen, C. E. Matt, F. Bisti, V. N. Strocov, J. Mesot, Z. Fang, X. Dai, T. Qian, M. Shi & H. Ding, H. Observation of Weyl nodes in TaAs. Nature Phys. 11, 724 (2015). doi: externe Seite10.1038/nphys3426

[17] G. Jotzu, M. Messer, R. Desbuquois, M. Lebrat, T. Uehlinger, D. Greif & T. Esslinger, Experimental realization of the topological Haldane model with ultracold fermions. Nature 515, 237 (2014). doi: externe Seite10.1038/nature13915

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