Ein neuer Twist für Graphen

Eichfelder stehen seit langem im Zentrum grundlegender Entwicklungen in der Theorie von Festkörpersystemen und bieten ein Sprungbrett Richtung exotischer Materiezustände. In einer theoretischen Arbeit haben ETH-Physiker gezeigt, dass verdrehte Graphen-Doppelschichten eine natürliche Plattform bieten für die Erzeugung von künstlichen Eichfeldern — und damit eine Spielwiese für die Erforschung neuartiger elektronischer Phänomene.

Materalien bieten ein reiches Spektrum an Quantenphänomenen, von verschiedenen Formen des Magnetismus bis hin zu allerlei Varianten von Supraleitung. Und Ende ist keines in Sicht. Regelmässig erleben wir neue Überraschungen, wie etwa im Bereich der topologischen Phasen, von welchen in der vergangenen Dekade eine Vielzahl in unterschiedlichsten Materialien und Systemen entdeckt wurden. Ensembles wechselwirkender Quantenteilchen scheinen eine unbegrenzte Anzahl unerwarteter Phänomene zu beherbergen. Die Grenzen des Möglichen systematisch auszuloten und zu überschreiten, um neuartige Formen von Quantenmaterie vorhersagen und realisieren, bleibt jedoch eine grosse Herausforderung, für Theoretiker und Experimentalisten gleichermassen. Umso mehr hat eine Arbeit Aufmerksamkeit erregt, die kürzlich externe SeiteAline Ramires, und Jose Lado publiziert haben [1]. Ramires war am Institut für Theoretische Studien der ETH tätig und Lado ist ein Postdoktorand in der Gruppe von Professor Manfred Sigrist am Institut für Theoretische Physik des Departments Physik. Sie sagen voraus, dass Graphen – ein wohletabliertes Quantenmaterial – auf neuartige Weise zur Erforschung von unkonventioneller Physik" verwendet werden kann, welche wiederum in technologischen Anwendungen genutzt werden könnte.

Quantenmaterie mit einem Twist

Eine Vielzahl von Quanten-Vielkörper-Phänomenen kann über die Dynamik der involvierten Teilchen verstanden werden. Einige erfordern jedoch eine andere Perspektive. Und hier kommen Eichfelder ins Spiel. Diese spielen eine wichtige Rolle bei der Wechselwirkung zwischen Teilchen. Das einfachste Beispiel sind Photonen, die elektromagnetische Wechselwirkungen von geladenen Teilchen vermitteln. Eichfelder können aber auch künstlich erzeugt werden, durch geeignete Kombinationen von Materialien und externen Feldern. Praktische Wege zu finden, um künstliche Eichfelder zu erzeugen, ist ein wichtiges aktuelles Ziel in verschiedenen Bereichen der Physik, von der Quantenoptik bis zur Festkörperphysik. Die Fähigkeit, Eichfelder masszuschneidern, verspricht, neue Wege für die Erforschung von Quanten-Vielkörper-Phänomenen zu eröffnen, insbesondere solche, bei denen Quantenteilchen stark miteinander wechselwirken.

Verdrehte Graphen-Doppellagen
Animation zweier Graphenschichten, wobei eine relativ zur anderen gedreht wird. Die weitreichige räumliche Modulation nimmt mit dem relativen Winkel zwischen den Schichten zu. (Animation: Jose Lado, ETH Zürich)

Ramires und Lado richteten ihr Augenmerk auf Graphen, welches als einzigartig vielseitiges Material zur Verwirklichung exotischer Phänomene in kondensierter Materie bekannt ist. Vergangenes Jahr kam es zu einer bahnbrechenden Entdeckung in Form eines „magischen Winkels" für Graphenschichten. Dabei geht es um zwei aufeinanderliegende Schichten von Graphen, die gegeneinander verdreht werden. Wenn der Winkel den "magischen" Wert von etwa 1,1° hat, dann werden die verdrehten Stapel supraleitend, und besitzen eine Reihe anderer bemerkenswerter Eigenschaften. Die ETH-Physiker haben in ihren Berechnungen nun aber wesentlich kleinere Winkel berücksichtigt, von nur einem Bruchteil eines Grades – in Van-der-Waals-Heterostrukturen wie Graphen-Doppelschichten können die Schichten, zumindest im Prinzip, in beliebigen Winkeln zueinander orientiert sein.

Für kleine Winkel fanden Ramires und Lado ebenfalls hochinteressante Eigenschaften. So verdrehte Graphen-Doppelschichten bieten nämlich eine natürliche Plattform, um künstliche Eichfelder zu realisieren, die durch eine elektrische Spannung gesteuert werden können. Die Entstehung dieser Eichfelder beruht auf einer synergistischen Kombination der räumlichen Modulationen des weiträumigen Musters der verdrehten Struktur (siehe Abbildung oben) und einer elektrisch gesteuerten Massenerzeugung. Als Ergebnis dieser Kombination erfahren die Elektronen ein emergentes Eichfeld, das im Graphen nicht intrinsisch vorhanden ist.

Grundlegende und praktische Bedeutung

Zusätzlich zu ihrer grundlegenden Bedeutung stellen Eichfelder ein Sprungbrett zu unkonventionellen Materiezustände dar, im Besonderen zu stark korrelierten Zuständen. Eichfelder bilden eine Art von lokalisierten Niveaus, sogenannte Landau-Niveaus. Das in der Graphen-Plattform vorhergesagte künstliche Eichfeld führt auch zu eigenen Pseudo-Landau-Niveaus. Das interessanteste Merkmal ist, dass sich diese  Pseudo-Landau-Niveaus aufgrund der modulierten Natur des Materials in einer neuen Struktur organisieren, namentlich in einem emergenten Kagome-Gitter. Kagome-Gitter sind Strukturen von besonderem Interesse, da sie eine hohe geometrische Frustration aufweisen und daher Quantenzustände beherbergen können, die unkonventionelle elektronische und magnetische Eigenschaften aufweisen. Dieses Merkmal macht Graphen zu einer vielversprechenden Plattform, um die Physik frustrierter Systeme zu erforschen. Für diese wurde vorhergesagt, dass sie zu wechselwirkenden makroskopischen Quantenzuständen führen, die als Quantenspinflüssigkeiten bekannt sind.

Künstliche Eichfelder und mehr

Die Möglichkeit in verdrehten Graphen-Doppelschichten Eichfelder und durchstimmbare Gitter zu erzeugen eröffnet neue Möglichkeiten, interessante Phänomene in Halbleiterbauelementen zu erkunden. Einerseits könnte das auftretende Eichfeld, dank seines elektrischen Ursprungs, zeitlich moduliert werden. Dies kann zu kontrollierbaren magnetischen Korrelationen führen, die denjenigen ähneln, die kürzlich in kalten Gasen in der Gruppe von Professor Tilman Esslinger im Institut für Quantenelektronik der ETH realisiert wurden [2]. Andererseits könnten korrelierte Zustände von Pseudo-Landau-Niveaus mit topologischen Moden der verdrehten Doppelschichten koexistieren, wie kürzlich die Gruppe von Professor Klaus Ensslin im Labor für Festkörperphysik der ETH [3] gezeigt hat – was zu einem paradigmatischen Material führt, in dem topologische und korrelierte Physik aufeinandertreffen.

Eine Vorzeigearbeit

APS-Kalender
Der APS-Kalender 2019, der im April auf die Arbeit von Ramires und Lado [1] verweist. (Mit freundlicher Genehmigung der American Physical Society)

Das Bestreben, unkonventionelle Physik in einem Festkörpersystem zu verwirklichen, könnte mit der Arbeit von Ramires und Lado eine unerwartete Wendung erfahren haben. Diese Arbeit zeichnet sich aber auch durch andere, ästhetische Qualitäten aus. Das Paper, in welchem die Ergebnisse beschreiben sind, wurde im Oktober letzten Jahres in Physical Review Letters [1] veröffentlicht, und ein Bild zum Artikel – eines, das die Bandstruktur des zweilagigen verdrehten Graphens im Pseudo-Landau-Regime darstellt – wurde für das Cover der Ausgabe ausgewählt. Dieses Bild feiert nun ein Comeback. Es ist auch als aktuelles Bild im Kalenders der American Physical Society zu sehen, und bringt so Wissenschaftlern auf der ganzen Welt die Eleganz und Schönheit dieser Arbeit nahe.

Literaturhinweise

[1] Ramires A, Lado JL. Electrically tunable gauge fields in tiny-angle twisted bilayer graphene. Phys. Rev. Lett. 121, 146801 (2018). externe Seitedoi: 10.1103/PhysRevLett.121.146801 externe SeitePreprint

[2] Görg F, Messer M, Sandholzer K, Jotzu G, Desbuquois R, Esslinger T. Enhancement and sign change of magnetic correlations in a driven quantum many-body system. Nature 553, 481 (2018). externe Seitedoi:10.1038/nature25135 externe SeiteKostenfrei zugängliche Version

[3] Rickhaus P, Wallbank J, Slizovskiy S, Pisoni R, Overweg H, Lee Y, Eich M, Liu M-H, Watanabe K, Taniguchi T, Fal'ko V, Ihn T, Ensslin K. Transport through a network of topological channels in twisted bilayer graphene. Nano Letters 18, 6725 (2018). externe Seitedoi: 10.1021/acs.nanolett.8b02387 externe SeitePreprint

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