Ein Aufruf zu mehr Transparenz

Neue Forschungsergebnisse deuten auf einen potenziell nicht beachteten Bias bei der Vergabe von Fördermitteln durch den Europäischen Forschungsrat hin.

von Gaia Donati

In letzter Zeit gab es einen Anstieg von Analysen und Meinungsbeiträgen über die Auswirkungen grosser Sprachmodelle auf akademische Texte, einschliesslich Förderanträgen. Die grundlegenden Fragen, die für viele Forscher am Anfang ihrer Karriere immer wieder auftauchen, existieren dennoch weiter: Wie kann ich die Finanzierung meines Projekts sicherstellen? Wie kann ich einen Zuschuss für die Gründung meiner eigenen Gruppe gewinnen?

In Nature Physics berichten Forscher der ETH Zürich, der Central European University in Österreich und der Universität Palermo in Italien über die bestehenden, aber kaum untersuchten Verbindungen zwischen der europäischen und der amerikanischen Förderlandschaft. Dr. Nicolò Defenu, ein Forscher am Institut für Theoretische Physik, der kürzlich zum Assistenzprofessor für Quantenphysik ernannt wurde, hofft, dass der Artikel eine offene Diskussion über akademische Karrierewege anregen wird.

Forschungsergebnisse: Unausgewogene Verbindungen

In ihrer Studie analysierten Defenu und die Co-Autoren Sandeep Chowdhary, Federico Musciotto und Federico Battiston, Daten von mehr als 6000 Forschenden aus anspruchsberechtigten Ländern, die Fördermittel des Europäischen Forschungrats (ERC) erhalten hatten. Die Daten stammten alle aus der externe SeiteOpenAlex-Datenbank. Bei der Betrachtung des Anteils kontinentübergreifender Kooperationen pro Forschungsarbeit stellten die Forscher fest, dass die ERC-Geförderten in der Anfangsphase ihrer Karriere, insbesondere vor dem Erhalt eines ERC Starting Grant, eine große Anzahl von Kooperationen mit den USA eingehen und dass die Anzahl dieser Kooperationen nach dem Erhalt des Preises stark abnimmt. Im Gegensatz dazu gibt es bei den Preisträgern von Stipendien der National Science Foundation (NSF) in den USA keinen eindeutigen Trend, der ihre kontinentübergreifende Zusammenarbeit kennzeichnet: Der Anteil ihrer in der EU ansässigen Mitarbeiter scheint in den ersten 20 Jahren ihrer Karriere unverändert zu bleiben.

Defenu und seine Kollegen zeigen ein ähnliches Ungleichgewicht bei der Mobilität von EU-Stipendiaten auf: In den frühen Phasen ihrer akademischen Laufbahn weisen ERC-Preisträger aus der EU eine längere Liste von akademischen Verbindungen auf als ihre US-amerikanischen Kollegen mit einem vergleichbaren akademischen Alter, das vom Datum ihrer ersten Veröffentlichung an berechnet wird.

In einer weiteren Datenanalyse wird untersucht, ob die beobachteten Trends und Ungleichgewichte möglicherweise auf Unterschiede in den Kooperationskulturen der EU und der USA zurückzuführen sind. Um das zu untersuchen, wurden Forschende analysiert, die in der EU oder in den USA forschten, jeweils einen ERC (EU), respektive einen NSF (USA) erhalten und mindestens 20 Publikationen veröffentlicht hatten. Die Daten dazu entnahmen die Forschenden der OpenAlex-Datenbank.

Berechnet man für diese beiden Kategorien – Forschende in der EU oder in den USAden prozentualen Anteil kontinentübergreifender Koautoren als Funktion der Zeit, so stellt man fest, dass in den USA ansässige Wissenschaftler tendenziell mehr mit den in der EU ansässigen Kollegen zusammenarbeiten. Hingegen arbeiten die in der EU ansässige Forscher eher weniger mit den in den USA ansässigen Kollegen und dies vor allem in späteren Phasen ihrer Karriere. Insbesondere arbeiten Forscher aus der EU weniger mit Wissenschaftlern aus den USA zusammen als solche, die ein ERC-Stipendium gewonnen haben. Diese Ergebnisse zeigen einen Zusammenhang zwischen ERC-Stipendien und der US-Forschungslandschaft, der nicht durch Unterschiede in den kulturellen Kooperationsmustern in der EU und den USA erklärt werden kann. Defenu und seine Koautoren untersuchten auch den starken Rückgang kontinentübergreifender Kooperationen bei ERC-Preisträgern nach der Vergabe ihrer Stipendien.

Bei der Analyse der Unterschiede in der Anzahl der einzelnen Koautoren von ERC-Preisträgern vor und während des Bewilligungszeitraums zeigte sich, dass ERC-Preisträger nach Erhalt ihrer Förderung vielfältigere Kollaborationen aufweisen: Dies deutet darauf hin, dass der Rückgang der in den USA ansässigen Kollaborationen nicht auf einen allgemeinen Abwärtstrend nach der Bewilligung zurückzuführen ist Ausserdem wurde festgestellt, dass die EU-Länder mehr zum Kooperationsnetz eines ERC-Preisträgers beitragen als zu dem eines NSF-Preisträgers.

Die Studie umfasst alle akademischen Disziplinen, die in OpenAlex vertreten sind: Dazu gehören Biologie, Materialwissenschaften und andere. Die Tendenzen sind in der Physik deutlich sichtbar, aber weniger als in Disziplinen wie Geologie oder Medizin.

Zwei Fragen an Nicolò Defenu zu dieser Studie

Nicolo Defenu
Nicolò Defenu forscht am Institut für Theoretische Physik. (Photo: ETH Zurich / D-PHYS / Heidi Hostettler)

Wie kamen Sie auf die Idee zu dieser Studie?

Als Postdoc in den USA traf ich auf Menschen, die dort forschten und oft von europäischen Einrichtungen mitfinanziert wurden. Das Ausmass dieses Phänomens hat mich verblüfft - es waren wirklich viele Leute - und führte mich zu der Frage: Warum verbringen Forscher aus europäischen Ländern Zeit an amerikanischen Universitäten und Labors, bevor sie nach Europa zurückkehren? Ich arbeite nicht direkt im Bereich der Wissenschaft der Wissenschaft, aber mein Freund und Mitarbeiter Federico Battiston tut dies. Wir sprachen über meine Beobachtung und diskutierten darüber, wie man das Phänomen quantitativ messen könnte. Federico schlug vor, dass wir uns auf die Gewinner von ERC- und NSF-Stipendien konzentrieren sollten: Die Untersuchung der verfügbaren Daten könnte Hinweise auf den Trend liefern, der mir aufgefallen ist, als ich selbst in den USA war.

Was möchten Sie der Forschungsgemeinschaft mit dieser Arbeit mitteilen?

Nachdem wir zu unseren Schlussfolgerungen gelangt waren - es scheint in der Forschungsgemeinschaft ein positives Bias gegenüber Nachwuchswissenschaftlern mit Berufserfahrung in den USA zu geben - waren wir alle der Meinung, dass es für die Gemeinschaft wichtig ist, sich dieser Erkenntnisse bewusst zu werden. Ich kann nur für mich selbst sprechen und denke, dass das Verfahren zur Vergabe von ERC-Finanzhilfen immer noch von zu vielen versteckten Variablen abhängt: Ich würde mir wünschen, dass diese Variablen sichtbar werden, dass sie zunächst anerkannt und dann in Frage gestellt werden. Ist eine Laufbahn mit Forschungserfahrung in den USA ein Pluspunkt bei der Bewerbung um einen ERC-Grant? Wird eine höhere Mobilität als Bonus angesehen? Wenn ja, dann sollten wir dies ausdrücklich sagen. Mein Ziel ist es nicht, hier Urteile zu fällen - ich möchte nicht sagen, dass dies falsch ist und korrigiert werden muss. Ich wünsche mir nur mehr Transparenz bei den Entscheidungsprozessen für die Vergabe dieser Stipendien.

Meiner Meinung nach ist die Forschungsgemeinschaft inzwischen so gross, dass wir nicht erwarten können, dass sie sich selbst reguliert. Deshalb ist es wichtig, kritisch zu hinterfragen, wie sie sich verhält und welche Entscheidungen sie trifft, welche Trends sie fördern will und welche sie bremst. Ich persönlich würde mehr Vielfalt in der Wissenschaft in Bezug auf die Karrierewege begrüssen, weil ich denke, dass die Universitäten von einer solchen Vielfalt an Forschungserfahrung profitieren würden.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Anna Radi und Kilian Kessler

Referenz

Chowdhary, S., Defenu, N., Musciotto, F. et al. Dependency of ERC-funded research on US collaborations. Nat. Phys. (2023). externe SeiteDOI:10.1038/s41567-023-02239-5

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