Die Quantenmechanik durch die Lehre wiederentdecken

Keine zwei Dozierenden würden Quantenmechanik auf die gleiche Art unterrichten. Und doch wären sie sich darin einig, dass die Vielfalt und die Besonderheiten der Quantenmechanik eine wunderbare Spielwiese bieten, experimentell unterrichten zu können.

von Gaia Donati
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«In der Quantenmechanik spielt es keine Rolle, wie gut man sich auskennt jedes Mal, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, denkt man anders darüber», sagt der theoretische Teilchenphysiker Charalampos Anastasiou, der derzeit Quantenfeldtheorie und vor kurzem Quantenmechanik unterrichtet hat, und ergänzt: «Es ist schön zu sehen, wie die Studierenden immer wieder überrascht werden».

Quantenmechanik an der ETH Zürich

Das Departement Physik bietet drei Hauptkurse zur Quantenmechanik (QM) auf Bachelor-Niveau an: Physik III, Quantenmechanik I und Quantenmechanik II. Der letztgenannte Kurs richtet sich an Studierende der Theoretischen Physik, während die ersten beiden Kurse für Physik-Bachelor-Studierende obligatorisch sind. Alle drei Kurse können auch von Studierenden anderer Fachbereiche belegt werden. Die Dozierende wechseln im Lauf der Jahre und haben so die Möglichkeit, den Kurs nach ihren eigenen Ansichten zu gestalten.

Physik III ist ein breit angelegter Kurs, der Optik, statistische Mechanik und QM umfasst. Als die experimentelle Quantenphysikerin Yiwen Chu diesen Kurs zum ersten Mal unterrichtete, suchte sie einen roten Faden, der diese scheinbar nicht zueinanderpassenden Themen verbinden sollte. Schliesslich entschied sie sich für die Schlüsselbegriffe Messung und Unsicherheit. Die Unsicherheit zeigt sich in den drei Themen des Kurses auf unterschiedliche Weise: «Wir sprechen über die Auflösung in bildgebenden Systemen, wir betrachten probabilistische Prozesse in der statistischen Mechanik und dann sehen wir in der Quantenmechanik, wie die Unsicherheit durch die Messung mit den physikalischen Eigenschaften eines Objekts verbunden ist», erklärt sie. Physik III bietet einen ersten Einblick in die QM und veranschaulicht beispielsweise ihre Bedeutung für die Atomphysik; Quantenmechanik I und II ermöglichen es den Studierenden tiefer in die Theorie einzutauchen und sich mit dem Formalismus der QM vertraut zu machen, der ihnen leistungsstarke Werkzeuge zur Untersuchung von Ein-Teilchen- und später Viel-Teilchen-Systemen aus Bosonen und Fermionen an die Hand gibt (weitere Einzelheiten zu den einzelnen Kursen siehe unten).

Eine Theorie, die anders ist als andere

Auch wenn die QM als etablierte Theorie betrachtet wird, die mittels Vorlesungen und einer grossen Auswahl an Lehrbüchern erlernt werden kann, so hat sie doch grundlegende Eigenschaften, die sie von anderen physikalischen Theorien unterscheidet.

«In der speziellen Relativitätstheorie hat man gute Ausgangspunkte, wie zum Beispiel eine Reihe von Axiomen wie die konstante Lichtgeschwindigkeit im Vakuum und das Relativitätsprinzip, aus denen man die gesamte Theorie ableiten kann. In der Quantenmechanik ist die Situation ganz anders», sagt der theoretische Quantenphysiker Renato Renner, der gerade Quantenmechanik I unterrichtet hat und fügt hinzu: «Irgendwann führt man einen Hilbertraum ein und sagt, dass der Zustand eines Quantensystems ein Vektor in diesem Raum ist. Dann könnte man fragen: Warum verwenden wir Hilberträume, und warum stellen wir Zustände als Vektoren dar? All das kommt wie aus dem Nichts».

Solche berechtigten Fragen mögen der Grund dafür sein, dass einige QM-Kurse und -Lehrbücher eine Mischung aus historischem und phänomenologischem Ansatz verfolgen, indem sie Experimente diskutieren, die die klassische Intuition in Frage stellen und die QM als den neuen Rahmen präsentieren, der diese rätselhaften Beobachtungen verständlich macht. Diese Sichtweise der quantenmechanischen Theorie spiegelt allerdings nicht wider wie sie vor hundert Jahren entwickelt wurde. Damals haben Wissenschaftler wie Max Born, Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli viel Forschungsarbeit geleistet und unterschiedliche Strategien ausprobiert, wie man bei der Durchsicht ihres umfangreichen Briefwechsels feststellen kann.

«Heute lesen wir nachträglich ausgewählte Arbeiten», bemerkt Renner, und diese Auswahl lässt das Ganze noch willkürlicher erscheinen. Wenn man die historische oder phänomenologische Einführung in die QM beiseite lässt, kann man die Theorie rückblickend  betrachten: Innerhalb des quantenmechanischen mathematischen Rahmens scheinen die Ergebnisse und Vorhersagen, die man über Quantensysteme formulieren kann, mit experimentellen Beobachtungen übereinzustimmen. Rückblickend ist es also akzeptabel, von Hilberträumen und Quantenzuständen zu sprechen. «Beide Ansätze sind für mich nicht zufriedenstellend», sagt Renner, der die Auffassung, die Quantenmechanik sei eine bestens geprüfte Theorie, offen in Frage stellt. «Sobald man Gedankenexperimente in Betracht zieht, die jenseits unserer technischen Möglichkeiten im Labor liegen etwa was passiert, wenn man ein grösseres Objekt in einen Superpositionszustand versetzt merkt man, dass es keine Einigkeit darüber gibt, wie die Theorie auf bestimmte Szenarien anzuwenden ist und das hängt mit ihrer unvollständigen axiomatischen Struktur zusammen».

Etwas anderes ausprobieren

Die Herausforderung, die QM trotz ihrer unsicheren Grundlagen in einer zusammenhängenden Geschichte darzustellen, kann Dozierenden dazu veranlassen, verschiedene Blickwinkel und Kursstrukturen zu erforschen, so dass das Unterrichten des Themas selbst zu einem eigenständigen Experiment wird. Chu beschloss, die Dirac-Notation einzuführen, als sie zum ersten Mal Physik III unterrichtete. «Ich weiss, dass dies vor meiner Zeit noch nicht gemacht wurde, aber ich denke, dass das ausschliessliche Arbeiten mit Wellenfunktionen wichtige Aspekte der Quantenmechanik vernachlässigt», sagt sie.

Renner machte sich Gedanken darüber, wie die QM-Kurse die Studierenden auf spätere Kurse über Quanteninformation (QI) und Quantenfeldtheorie (QFT) vorbereiten sollten. «Die Art und Weise, wie Quantenmechanik gelehrt wird, ist in der Regel und von vornherein nicht mit Quanteninformation vereinbar. In der Standard-Quantenmechanik sagt man, dass der Zustand eines physikalischen Systems eine Eigenschaft des Systems selbst ist, während in der Quanteninformation der Zustand das Wissen ist, das man über das System hat, was es näher an eine Wahrscheinlichkeitsverteilung bringt. Diese Unvereinbarkeit wird nur selten thematisiert», erklärt er. Er beschloss, den Kurs Quantenmechanik I neu zu konzipieren, und stellte fest, dass das eine grössere Herausforderung darstellte, als er ursprünglich dachte.

«Einige Konzepte der Quantenfeldtheorie lassen sich nicht mit dem Standpunkt der Quanteninformation vereinbaren. In der Quantenfeldtheorie spricht man zum Beispiel von einer Messung als etwas, das in einer asymptotischen Zukunft, in einem Kollisions-Experiment, geschieht, so dass man sich nicht darum kümmert, wie die Messung das Feld beeinflusst. Im Gegensatz dazu ist die Messung in der Quanteninformation ein wesentliches Konzept. Es ist schwierig, einen gemeinsamen Nenner zu finden», sagt er.

Um die Kluft zwischen den Grundlagen der QM, QI und QFT zu verringern, entschied sich Renner für eine operative Einführung in die quantenmechanische Theorie, die fortgeschrittene mathematische Werkzeuge und Konzepte wie die Lie-Algebra erfordert. Er ist sich bewusst, dass er den Studierenden damit viel abverlangt. «Zu Beginn des Kurses sagten sie mir, dass das, was ich ihnen erzähle, nichts mit dem zu tun hat, was sie in Physik III gelernt hätten», sagt er. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Philipp Kammerlander, der das Quantum Center leitet und einen Quantenphysik-Kurs für Studierende mit wenig Physikkenntnissen unterrichtet. Dieser Kurs ist Teil des ETH-Masters in Quantum Engineering: Struktur und Skript wurden ursprünglich von der Physikerin Lídia del Rio entwickelt. «Das Problem vieler Standardeinführungen in die Quantenmechanik besteht darin, dass sie die Studierende nicht in die Lage versetzen, die Schrödingergleichung zu lösen oder die erwartete Messstatistik für ein bestimmtes Experiment zu berechnen», sagt Kammerlander. Dies führte ihn zu einem Ansatzpunkt, der dem von Renner ähnelt. «Ich erkläre den Studierenden, wie wir Quantensysteme mathematisch modellieren, wie wir einen Zustand beschreiben, was Observablen sind und wie man sie misst, wie man ihre Statistiken findet und ihre Entwicklung untersucht». Kammerlander ist sich bewusst, dass diese Strategie ihren Preis hat. «Da ich von Anfang an formal und mathematisch streng sein will, weiss ich, dass ich nicht allem gerecht werden kann, was ich bespreche. Ich führe Konzepte ein, bei denen ich sage, nehmt es erst einmal so wie es ist und arbeitet damit. Dann werden wir mehr daraus machen. Das passiert immer wieder, also müssen die Studierende in meinem Kurs geduldig sein».

Blick nach vorn

Comic-Strip "Why so many people have weird ideas about quantum mechanics"
https://xkcd.com/1861/

Kammerlanders Ansatz für die Lehre der QM muss das jeweilige Profil seiner Studierenden berücksichtigen. «Mein Kurs ist nicht für diejenigen gedacht, die später einmal Teilchenphysiker oder String Theoretiker werden wollen. Meine Studierende besuchen den Kurs über Quanteninformationsverarbeitung und vielleicht sogar den über Quanteninformationstheorie. Sobald man anfängt sich mit Quantenalgorithmen zu beschäftigen, nimmt sich niemand mehr die Zeit den Formalismus der Theorie zu erklären», sagt er. Studierende, die den Master in Quantum Engineering absolvieren, können dabei durchaus in die Reihen der so genannten Quantenarbeitskräfte aufgenommen werden und in Start-ups für Quantentechnologie (QT) oder in grösseren Unternehmen mit speziellen QT-Forschungseinheiten arbeiten.

Strenge Notation und Terminologie sind auch eine Möglichkeit, die Studierende in die Lage zu versetzen, zu erkennen, wenn Wörter falsch verwendet oder Konzepte falsch dargestellt werden. «Es gibt mittlerweile populäre Begriffe, die viel umherschwirrenman denke nur an die Verschränkungund manchmal ist es wichtig, sie zu entmystifizieren», sagt Kammerlander. «Wenn die Studierende die Theorie schätzen und wissen, wie wunderbar sie funktioniert, verlieren Schlagworte ihren Reiz». Chu stimmt der verwirrenden Rolle zu, die die populäre Berichterstattung über Themen im Zusammenhang mit der QM spielen kann. «Die Aussage, dass ein Objekt gleichzeitig hier und dort sein kann nun, das ist nicht wirklich der Fall. Aber einige Studierende haben solche Aussagen vielleicht schon gehört und kommen mit einem bestimmten Bild in die Vorlesung», sagt sie. Ihr gefällt der Gedanke, dass die QM-Kurse den Studierenden die Möglichkeit geben, der unpräzisen Sprache überdrüssig zu werden und ihre anfänglichen mentalen Bilder allmählich mit den richtigen Interpretationen in Einklang zu bringen.

Anastasiou schliesst nicht aus, dass das Lehrangebot des Fachbereichs QM weiter überarbeitet wird, um der sich verändernden Rolle dieses Fachs innerhalb der Physik und darüber hinaus Rechnung zu tragen. «Es gibt Themen, die wir nur schnell anreissen können, und wir müssen immer eine Auswahl treffen es wäre schön, wenn wir mehr Platz für die relativistische Quantenmechanik hätten, oder wenn wir Mehrteilchensysteme früher als in Quantenmechanik II einführen könnten». So wie es aussieht, ist die Quantenmechanik sowohl ein lebendiges Forschungsgebiet als auch ein immer wieder anregendes Lehrfach.

Kurse in Quantenmechanik an der ETH Zürich

Physik III ist ein Bachelor-Kurs im zweiten Jahr, der für alle Physikstudierenden obligatorisch ist.

Quantenmechanik I ist ein Bachelor-Kurs im dritten Jahr, der für alle Physikstudierenden obligatorisch ist.

Quantenmechanik II ist ein Grundkurs im dritten Jahr des Bachelor-Studiengangs Theoretische Physik.

Diese Kurse sind auch für Mathematik-Bachelor- und Master-Studierenden zugänglich; Quantenmechanik I und II sind auch für Studierenden des ETH-Masters in Quantum Engineering zugänglich.

Quantum Field Theory I and Quantum Field Theory II sind Master-Kernkurse für den Lehrplan der Theoretischen Physik.

Quantum Information Processing I and Quantum Information Processing II sind Master-Kernkurse für den Lehrplan der Experimentalphysik; beide sind auch für Studierenden verschiedener anderer Studiengänge zugänglich.

Quantum Information Theory ist ein Master-Wahkurs für den Lehrplan der Theoretischen Physik.

Quantum Physics for Non-Physicists ist ein Kurs für den Master in Quantum Engineering, der auch von Informatikstudierenden belegt werden kann.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Kilian Kessler

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